In Erstgesprächen wird mir oft erzählt, das „Problem“ der Jugendlichen oder des Kindes sei „zu wenig Selbstbewusstsein“. Damit meinen Eltern oder Betroffene meistens Selbstzweifel, geringes Selbstwertgefühl, sich wenig zutrauen, sich nicht schön genug, nicht schlau genug, nicht „hip“ genug finden. Verbunden damit ist die Hoffnung, ich würde in der Therapie machen können, dass sich die Kinder/Jugendlichen/jungen Erwachsenen geliebt, wertvoll, klug und hübsch finden und keine Zweifel mehr haben. Nur, Sie ahnen es vielleicht: so einfach ist die Sache nicht.
Üblicherweise übersetze ich „Selbstbewusstsein“ zuerst mal als „Fähigkeit, sich seiner selbst bewusst zu sein“, also sich über seine Gedanken, Gefühle, Wertvorstellungen, Wünschen, Erwartungen, Sehnsüchte, Absichten, Identitätszuschreibungen etc. im Klaren zu sein. Ein nächster Schritt ist, diese inneren Prozesse als Ausgangspunkt für das eigene Handeln zu verstehen. Somit werden viele als störend oder schädigend empfundene Verhaltensweisen nachvollziehbar.
Mit etwas Logik wird klar, dass auch „die Anderen“ ihr Handeln an ihren inneren psychischen Zuständen ausrichten. Und dann beginnt oft einer der Denkfehler: Viele Menschen glauben, dass sie aus dem Verhalten anderer mit Sicherheit wissen, was im Inneren diesen Personen vorgeht. Über die inneren Vorgänge einer anderen Person können wir aber nur mehr oder weniger gut spekulieren. Wenn unsere Annahmen über die Motive, Absichten, Bedürfnisse etc. der anderen Person unhinterfragt als Gewissheit in unser Bewusstsein treten, dann werden zwischenmenschliche Beziehungen schnell kompliziert, unangenehm und bisweilen unerträglich. Auch die Beziehung zu uns selbst leidet massiv darunter. Geringer Selbstwert, geringe Selbstwirksamkeitserwartung, Selbstabwertung oder Selbstzweifel können so sehr leicht entstehen und bestehen bleiben, weil wir nur noch die Dinge wahrnehmen, die das negative Selbstbild stützen. Das Traurige daran: auch das ist selten bewusst und wird als Gewissheit hingenommen.
Ein weiterer häufiger Denkfehler ist, dass „die Anderen“ oder sonstige äußere Umstände daran „schuld“ sind und folglich auch die Verantwortung tragen, den eigenen Selbstwert von außen wieder herzustellen. Damit möchte ich verletzendes Verhalten anderer Menschen keinesfalls schönreden, gerade Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene erleben da oft sehr problematische Dinge. Damit diese negativen äußeren Einflüsse aber so nachhaltig schädigend auf den Selbstwert wirken, müssen sie auf innere Resonanz treffen, z.B. verinnerlichte Zuschreibungen wenig schmeichelhafter Eigenschaften oder ein ins Negative verzerrte Selbstbild. So lange diese inneren Überzeugungen wirken und ihrerseits Gedankenschleifen und unangenehme Gefühle in Gang setzen, wird sich am geringen Selbstwertgefühl nichts ändern, selbst wenn von Außen Komplimente, Entschuldigungen oder Wiedergutmachungen kommen sollten (was erfahrungsgemäß eher selten der Fall ist, weil sich die Verursacher meist keiner „Schuld“ bewusst sind). In der Therapie fällt die Wirkungslosigkeit positiver Rückmeldungen meist dann auf, wenn ich in einer Sitzung auf eine „Erfolgsgeschichte“ mit einer Anerkennung reagiere. Von Jugendlichen höre ich dann: „Das müssen Sie ja jetzt sagen, Sie sind meine Psychotherapeutin“.
Es lohnt sich also in der Therapie, den Blick von äußeren Umständen und anderen Menschen nach innen, auf sich selbst zu wenden und sich mehr mit den seelischen Innenräumen zu befassen. Wenn das in unserer auf Äußerlichkeiten ausgelegten Welt lange nicht geschehen ist, kommt einem das zunächst mal ungewohnt vor, was für Verunsicherung sorgt. Manchmal findet man bei der Beschäftigung mit der eigenen Psyche auch „vergessene“ Situationen aus der eigenen Lebensgeschichte, mühsam aus dem Bewusstsein gehaltene eigene Anteile an schwierigen Lebenssituationen oder Aspekte der Persönlichkeit, die dem hohen eigenen Ich- Ideal nicht entsprechen. Auf den ersten Moment ist die Konfrontation mit diesen Dingen nicht immer angenehm und oft von „negativen“ Gefühlen wie Scham, Trauer, Schmerz oder Wut begleitet. In der Therapie kommen an dieser Stelle oft Abbruchwünsche: „Die Therapie bringt mir nichts, jetzt geht´s mir noch schlechter“.
An dieser Stelle im therapeutischen Prozess zahlt es sich am meisten aus, die unangenehmen Gefühle vorübergehend in Kauf zu nehmen und tiefer zu gehen. Im weiteren Verlauf verbessert sich dann nämlich nicht nur das eigene Selbstwertgefühl, sondern es entsteht auch ein realistisches, kohärentes Selbstbild. Mehr Verständnis für das eigene Geworden- Sein, Mitgefühl mit sich selbst und die Fähigkeit, angemessen und gut für sich selbst zu sorgen verbessern zwischenmenschliche Beziehungen deutlich und ermöglichen jungen Menschen das, was sich die meisten für sich bzw. ihre Kinder wünschen: ein zufriedenes, unabhängiges und selbst bestimmtes Leben im Erwachsenenalter.
Hier ein paar Informationen zum theoretischen Hintergrund und zur Vertiefung:
„Having mind in mind“
Wir tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeuten bezeichnen die Fähigkeit, sich selbst von außen und die anderen von innen zu sehen, als Mentalisieren. Diese wichtige Fähigkeit wird vom Babyalter an im Kontakt mit unseren Bindungspersonen erlernt und entwickelt sich über die Kindheit und Jugend weiter. Grundlage hierfür sind unsere Beziehungserfahrungen. Auch in der Psychotherapie wird an der Mentalisierungsfähigkeit gearbeitet (auch wenn jede Therapierichtung dafür eigene Bezeichnungen hat).
Was Eltern von Kindern tun können, zeigt dieses Video vom Institut für Traumabearbeitung in Frankfurt.
Wer sich mit dem Zusammenhang von Mentalisierungsfähigkeit und seelischen Erkrankungen beschäftigen möchte, dem kann ich eine Podcast- Folge „Rätsel des Unbewussten“ empfehlen.