Psychische Erkrankungen, Social Media und KI

Bisweilen kommen Jugendliche und junge Erwachsene in meine psychotherapeutische Sprechstunde und haben einen klaren Auftrag: sie wissen, welche Diagnose sie haben und möchten sich diese Diagnose bestätigen lassen. Auf Nachfrage erfahre ich dann, dass sie damit eine Befreiung von der Schulpflicht oder die kostenfreie Mitnahme ihres Haustieres im ÖPNV als „emotional aid animal“ erreichen wollen. Auf TicToc hätten sie da Videos gesehen, dass das möglich sei. Die Diagnose hätten sie sich selbst mittels ChatCPT gestellt, nachdem sie über einen Beitrag „5 sichere Anzeichen, dass Du XYZ hast“ die Ursachen ihrer Probleme erkannt hätten. Eine Behandlung sei nicht nötig, da sie nun Influencern folgen würden, die selbst betroffen sind und daher am besten wüssten, was hilft.

Als approbierte Psychotherapeutin mit einigen Jahren Berufserfahrung muss ich da zunächst meine eigene Impulsivität managen (ich bin nämlich auch neurodivers, wenn wir in diesen Kategorien denken wollen). Wenn ich dann wieder zur Empathie fähig bin, erkenne ich einen jungen Menschen in seelischen Nöten in einer Gesellschaft mit hohen Anforderungen, der auf das zurückgreift, was er als seine Lebenswelt definiert hat: Soziale Medien und künstliche Intelligenz. Dann mag ich es den Jugendlichen nicht verübeln, sich auch zur psychischen Gesundheit so zu informieren wie in anderen Bereichen des Lebens auch und dabei tragischen Fehlannahmen aufzusitzen.

Was häufig nicht beachtet wird, ist die Absicht, mit der ganz normale psychische Phänomene pathologisiert werden: fast immer geht es letztlich darum, Geld (über Verkauf von Dienstleistungen und Produkten bzw. bezahlte Klicks) oder Aufmerksamkeit zu generieren. Der aufrechte Wunsch zu helfen, psychische Erkrankungen zu entstigmatisieren oder Erfahrungen innerhalb einer Community bereitzustellen steht dabei meist (wenn überhaupt) an letzter Stelle.

Entwicklungspsychologisch gesehen ist die Jugendzeit und das junge Erwachsenenalter die Phase im Leben, in der wir eine eigene Identität herausbilden. Das ist bei den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen immer schwieriger, daher finde ich es verständlich (wenn auch nicht nachhaltig hilfreich), auf die identitätsstiftende Wirkung einer Diagnose zu hoffen. Mein Anliegen als Psychotherapeutin ist jedoch nicht, die Diagnose zu manifestieren und über Jahre, wenn nicht das ganze folgende Leben, mit sich zu tragen. Vielmehr möchte ich den jungen Menschen helfen, sich aus ihren Problemen zu befreien und unbelastet ihren Lebensweg zu gehen.

Deshalb biete ich mit einem zeitnahen Erstgespräch und dem Mental Health Club schnelle Unterstützung für junge Menschen bis 21 an, die in Zweifel über ihre psychische Gesundheit geraten sind. Beide Angebote sind noch vor einer Diagnose möglich, ein Verdacht reicht aus. Wer Angst vor enttäuschten Eltern hat: Gesetzlich versicherte Jugendliche dürfen sich ab 15 Jahren ohne Wissen der Eltern an die Praxis wenden. Sollte sich herausstellen, dass eine psychische Erkrankung vorliegt, ist es mir ein Anliegen, möglichst viele Therapieplätze auch am Nachmittag anzubieten. In meinen Therapiegruppen ist fast immer noch ein Platz frei, bei Vorliegen der Behandlungsvoraussetzungen kann eine Gruppentherapie oder Kombibehandlung zügig starten.

Wer sich vertieft mit dem Thema befassen möchte, dem sei ein Beitrag von Deutschlandfunk Nova empfohlen:

Mental Health und Social Media: Das Geschäft mit unserer Psyche · Dlf Nova

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